PHOTO: Syrischer Soldat im Kampf gegen Ter roristen: Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien.
Published: ZUERST (Germany). 01-2016. [0,24Mb PDF]
Der renommierte russische Milit?rjournalist Oleg Walezkij
beschreibt f?r ZUERST! die Situation im Nahen Osten.
OLEG WALEZKIJ
Oleg Walezkij wurde 1968 in der Ukraine geboren. Er nahm an den Balkankriegen in Bosnien-Herzegowina (1993–1995), im Kosovo (1999) und in Mazedonien (2001) teil. Anschlie?end arbeitete er in verschiedenen Organisationen, die sich unter anderem mit Minenr?umung im ehemaligen Jugoslawien, im Irak und in Afghanistan besch?ftigen. Walezkij ist Publizist und schreibt regelm??ig ?ber milit?rhistorische, milit?rpolitische und milit?rtechnische Themen.
Die Lage ist ?u?erst schwierig: Millionen Fl?chtlinge befi nden sich allein in Syrien sowie in Nachbarl?ndern und anderen, weiter entfernten Staaten. So sehr die Fl?chtlinge, die der angeblichen „Tyrannei“ Baschar al-Assads entronnen sind, ein „hei?es“ Thema der Massenmedien wurden, so wenig wurden es die Fl?chtlinge, die sich vor dem Terror der bewaffneten „Opposition“ in jenen Gebieten verstecken, die von syrischen Regierungstruppen kontrolliert werden. Allein in der Hafenstadt Latakia befi nden sich derzeit Hunderttausende dieser Fl?chtlinge. Die Wirtschaft Syriens steckt zudem in einer tiefen Krise.
Es sind nach UN-Angaben bereits mehr als 200.000 Menschen in diesem Krieg umgekommen. Die syrische Armee hat die H?lfte ihres Bestandes eingeb??t. ?berall wird Krieg gef?hrt, und das nicht nur zwischen den Anh?ngern der Regierung und verschiedenen „Oppositions“-Gruppen, sondern auch zwischen den „Rebellen“ unterein ander. Die sogenannte „Freie Syrische Armee“ besteht faktisch aus syrischen Fl?chtlingen, die der t?rkische Geheimdienst in Lagern in der T?rkei rekrutiert hat. Sie hat nur geringen Einfl u? auf das Geschehen in Syrien. Sie st?tzt sich auf die Kr?fte der „Unterst?tzungsfront der Bev?lkerung Gro?syriens“ („Al-Nusra-Front“).
Al-Nusra kontrolliert Gebiete in Syrien nur dank der t?rkisch-syrischen Grenz?berg?nge. Der Hauptst?tzpunkt von Al-Nusra in Syrien befi ndet sich in den Provinzen Idlib und Nord-Latakia mit Schwerpunkten in den St?dten Tamana, Latamni, Chodschechun, Idlib, Ariecha, Artun Neman und Dschisr al-Schuchur und wird aus Lagern in der T?rkei mit Waffen, Munition und Rekruten versorgt. Die Stadt Salma, 40 Kilometer von Latakia entfernt, wird direkt vom t?rkischen Territorium aus unterst?tzt, das von Luftabwehrsystemen vom Typ „Patriot“ (aus US-Produktion) gesch?tzt wird.
Die Kriegshandlungen in Aleppo werden seit 2013 im Interesse der T?rkei gef?hrt, weil das Land die Wirtschaftsmetropole kontrollieren will. Nur durch die Hilfe Ankaras gelang es der „bewaffneten Opposition“, die H?lfte der Stadt und einige Randgebiete einzunehmen. Ebenfalls vom t?rkischen Territorium aus wurde eine Reihe von Ortschaften in der K?stenregion 25 Kilometer von Latakia entfernt besetzt. Die Bezirke Deiry und Kuneitri, die unter der Kontrolle von Al-Nusra stehen, erhalten Milit?rhilfe aus den Grenzregionen Jordaniens und den von Israel beherrschten Golan-H?hen. Al-Nusra ist verfeindet mit einer zweiten wichtigen Kraft dieser Region, mit dem „Islamischen Staat“ (IS). Die Gr?nde dieses Konfl iktes sind vor allem ideologischer Art.
Seit dem Moment der Gr?ndung der ersten bewaffneten Oppositionsgruppe „Freie Syrische Armee“ aus einem Aufgebot von arabischen sunnitischen St?mmen, Deserteuren der syrischen Armee und ausl?ndischen Freiwilligen wurden Teile ihrer Einheiten von syrischen Muslimbr?dern kontrolliert. Bereits ein Jahr zuvor beschrieb der russische Islamwissenschaftler Dr. Alexander Ignatenko in dem Artikel Zusammenarbeit und Konkurrenz: Al-Kaida in Syrien 2013 den Krieg in Syrien und konstatierte die Existenz von zwei Al-Kaida-Gruppen – einer ?lteren, deren Basis die „Al-Nusra-Front“ bildete, und einer neuen in Gestalt der Organisation „Islamischer Staat von Gro?syrien und Irak“, sp?ter bekannt als IS. Letztere tauchte in Gestalt des Jordaniers pal?stinensischer Herkunft Abu-Musab al-Sarkawi, des Anf?hrers der Gruppierung „Einiger Gott und Dschihad“ auf, die dann sp?ter in „Al-Kaida in den L?ndern der zwei gro?en Str?me“ umgebildet wurde. Sarkawi, der am 7. Juni 2006 im Irak starb, f?hrte die Praxis des Kopfabschneidens mit einem Dolch ein, so wie man Hammel schlachtet. Er machte daraus ein religi?ses Ritual zur Abrechnung mit allen Ungl?ubigen.
Der Krieg, der zwischen den beiden Organisationen in Syrien gef?hrt wird, entwickelte sich nicht zu einem Kampf zweier Banden, sondern war Folge eines tiefen ideologischen Zerw?rfnisses. Dies hat seinen Grund darin, da? der IS vollst?ndig von der salafi stischen Ideologie ihrer Anh?nger Osama bin Laden sowie al-Sarkawi durchdrungen ist, deren Meinung de facto ?ber allen Aus-legungen islamischer Theologen steht, auch ?ber dem Koran. Al-Nusra hingegen bewahrt die Traditionen des alten Salafi smus der 1980er und 1990er Jahre.
Gegenw?rtig sind auf den Gebieten Syriens, die formal unter der Kontrolle der Armee verblieben sind – verschiedene Beobachter gehen von einem Drittel bis zur H?lfte des Staatsgebietes aus –, viele Ortschaften mit arabisch-sunnitischer Bev?lkerung sich selbst ?berlassen, lediglich die St?dte werden von der Armee kontrolliert. Aber auch hier werden Aktionen der Terroristen durch sunnitische Einwohner unterst?tzt, wenn diese in den St?dten Angriffe auf Regierungstruppen durchf?hren.
Die syrische Armee besteht in der Mehrheit aus Alawiten, die etwa zw?lf Prozent der 20 Millionen Einwohner Syriens ausmachen. Richtig ist, da? die Alawiten einen hohen Kampfgeist haben und bereit sind, ihren Glaubensbruder Assad bis zum Ende zu verteidigen, obwohl die Kriegsjahre und der Zerfall der Wirtschaft auch an ihnen nicht spurlos vor?bergegangen sind. ?brigens sind es die Taten der salafi stischen Terroristen, die ohne Ausnahme Alawiten und Christen ermordet, die ihren Zusammenhalt f?rdern. Dadurch verwischen sich innere Gegens?tze unter den Alawiten. Die muslimischen Drusen unterst?tzen Assad ebenfalls, ungeachtet der Spaltung der libanesischen Drusen in zwei verfeindete Lager. Ein besonderer Nachteil f?r die Kampfkraft der Armee Syriens ist die Tatsache, da? andere syrische Minderheiten, zum Beispiel die Christen, nur ungef?hr zehn Prozent der Bev?lkerung ausmachen, auch die Schiiten anderer Glaubensrichtung (bis zu drei Prozent) stellen nur einen kleinen Anteil in der Armee. Was das sunnitische Armeepersonal betrifft, bekleiden sie in der syrischen Armee die ?l teren Kommandoposten oder dienen als Wehrpfl ichtige verschiedener Spe zial einheiten, f?r die es keinen Weg zur?ck gibt. Bei ihnen handelt es sich jedoch nur um einen unbedeutenden Teil der Armee. Pal?stinensische Fl?chtlinge unterst?tzen seit Beginn des „Ara bischen Fr?hlings“ die bewaffneten Aufst?ndischen. Aus ihnen wurden Gruppen wie etwa der „Islamische Dschihad“ gebildet. Die sunnitische Gemeinde, die mehr als die H?lfte der Bev?lkerung stellt, befi ndet sich faktisch au?erhalb der direkten Kontrolle des Staates, mit Ausnahme der Mittelmeerregionen um Tartus und Latakia sowie des Gro?raums Damaskus.
Die syrische Armee hat im Moment
noch die ?bermacht ?ber ihre
zersplitterten Feinde.
Der Zusammenbruch der syrischen Armee wird praktisch durch die Milit?rhilfe Irans verhindert, die in Syrien mit dem Spezialverband „Kuds“ operiert. Ebenfalls k?mpfen Verb?nde der libanesischen Hisbollah in Syrien, mit deren Hilfe die Grenze zum Libanon von Terroristen ges?ubert wurde. An den Fronten k?mpfen die Streitkr?fte Syriens und Irans Seite an Seite, ebenso kurdische Peschmerga-Einheiten. Die Kampfhandlungen in Syrien mu? man im Grunde mit den K?mpfen im Irak als Einheitsfront verstehen. Und es ist wahrscheinlich, da? die Kampfhandlungen mit der PKK in der T?rkei und der Krieg im Jemen unterschiedliche Frontabschnitte ein und desselben Krieges sind. Die syrische Armee hat im Moment noch die ?bermacht ?ber ihre zersplitterten Feinde, in erster Linie durch gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Jedoch verf?gen die bewaffneten Verb?nde der „Rebellen“ ?ber eine bedeutende Anzahl an Panzerabwehrwaffen (zum Beispiel sowjetische Granatwerfer RPG-7, jugoslawische M-79, r?cklauffreie SPG-9 und PTRK „Maljutka“ aus sowjetischer Produktion sowie TOW aus den USA), Artillerie (etwa das sowje tische Gesch?tz M 46), Panzerfahrzeugen (sowjetische T 55, T 72 und BMP 1) und tragbaren Luftabwehrraketen. In einigen Regionen, insbesondere in der Provinz Idlib, beobachtete man nach Beginn der Oktober-Offensive der sy rischen Armee eine Auss?hnung und ein Zusammengehen von fr?her untereinander feindlich gesinnten Gruppen des IS, von Al-Nusra, Fatah und „Islamischer Dschihad“, was zum Mi? erfolg des syrischen Angriffs auf Latman f?hrte und eine gro?e Anzahl Opfer (bis zu 500 Gefal lene) gefordert hat.
Die russische Milit?rintervention im Krieg in Syrien hat durch die Luftschl?ge russischer Kampffl ugzeuge auf die Terroristen eine Wende herbeigef?hrt. Der dadurch angefachte Widerstand der USA, Gro?britanniens und der T?rkei gegen die Eins?tze der rus sischen Luftstreitkr?fte k?nnte zu direkten Luftk?mpfen dieser Staaten mit russischen Kr?ften f?hren. Zur Zeit spielt aber der diplomatische Druck auf die Russische F?deration eine gr??ere Rolle. Im Moment kann die russische Milit?rintervention nicht von den Zielen Assads getrennt werden. Ihm n?tzen Luftschl?ge auf Positionen der Al-Nusra, die wichtige Punkte in der Mitte und im Norden Syriens h?lt, am meisten, denn f?r eine Bodenoffensive gegen den IS – der haupts?chlich den Osten des Landes kontrolliert – hat die syrische Armee noch keine Kr?fte frei. Aber nach dem Zusammenbruch des Widerstandes von Al-Nusra in Idlib und Nord-Latakia und nach der Entsetzung Aleppos kann sich die Situation ergeben, da? Baschar al-Assad die K?stenregionen von Tartus und Latakia mit Damaskus vereinigen und Syrien als einheitlichen Staat bewahren kann, wenn auch in reduziertem Umfang.
PHOTO: Die zur Zeit besonders umk?mpften syrischen Provinzen Idlib und Latakia.